Die Individualpsychologie hat ihre Wurzeln in den Beiträgen Alfred Adlers zur Tiefenpsychologie und seiner Auseinandersetzung mit Sigmund Freud, die 1911 zum Zerwürfnis der beiden führte. Der damaligen Einengung der Psychoanalyse auf einen triebpsychologischen Blickwinkel stellte Adler eine Betonung der sozialen Bezogenheit des Menschen entgegen. Damit entwickelte er früh eine beziehungstheoretische Akzentuierung der Psychoanalyse. Gleichzeitig war er historisch ein bedeutender Impulsgeber auch für die Entwicklung humanistischer Psychotherapieverfahren. Im Rahmen ihrer vielfältigen Weiterentwicklung bildet die Individualpsychologie heute einen wichtigen Teil der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Sie versteht sich als eigener, dabei gleichzeitig mit anderen Strömungen der Psychoanalyse eng verbundener und in vielfältigem Austausch stehender Ansatz, quasi als besondere Klangfarbe im Konzert von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie.
Die Individualpsychologie geht von einem ganzheitlichen Verständnis der bewussten und unbewussten Handlungs- und Erlebnisweisen aus. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt der Beziehungsgestaltung durch den Einzelnen im sozialen Feld unter besonderer Berücksichtigung von Affekten, intrapsychischen Konflikten und Strukturen. Dabei wirkt nach individualpsychologischer Auffassung eine dem Menschen innewohnende schöpferische Kraft vermeintlichen Festlegungen durch biologische, biografische und soziale Bedingungen entgegen und verschafft dem Individuum Entwicklungsfreiräume. Ausgehend von einer Position der subjektiven Ohnmacht ist die individuelle Entwicklung nach Adler durch das Streben nach Überwindung subjektiv erlebter Mangellagen geprägt, die sich unbewusst kompensatorisch in der Suche von Sicherheit und Überlegenheit, aber auch nach Kooperation und Gemeinschaft äußert. Der große Entwurf Alfred Adlers war die Idee, dass die unteilbare Ganzheit des Menschen in ihrer Widersprüchlichkeit und Dialektik verstanden und in der benötigten Spannungstoleranz angenommen werden soll, damit sich der Einzelne und die Gesellschaft entfalten können. Die Individualpsychologie vereinigt daher das Interesse an der ganz persönlichen Entwicklung des Individuums in Psychotherapie, Erziehung und Beratung mit dem gesellschaftlichen und politischen Blick auf unsere Welt.
Was bedeutet Individualpsychologie?
Wer war Alfred Adler?
Alfred Adler, 1870 in Wien geboren und aufgewachsen (gestorben 1937), Allgemeinmediziner und Nervenarzt. Er gehörte 1902 zu den Gründungsmitgliedern der „Mittwochsgesellschaft“ Sigmund Freuds. 1911 kam es zum Bruch mit Freud.
1911, also vor über 100 Jahren, ist dann aus der Auseinandersetzung Alfred Adlers mit der Psychoanalyse Freuds die Individualpsychologie hervorgegangen. Adler gründete seinen „Verein für freie Psychoanalyse“, aus dem 1913 der „Verein für Individualpsychologie“ hervorgegangen war.
Alfred Adler ging in seinem Menschenbild von der Einheit der Persönlichkeit aus - vom Individuum. Individuum heißt übersetzt „das Unteilbare“. Adler sah den Menschen im Spannungsfeld zwischen eigenen Bedürfnissen und den Forderungen der Gesellschaft, also in seinen Beziehungen zu den Mitmenschen. Diese Sichtweise ist für unsere heutige Gesellschaft immer noch hochaktuell.
Die Einheit der Persönlichkeit bedeutet, dass in jeder einzelnen Lebensbewegung eines Menschen sein Lebensgefühl und seine Sicht von der Welt enthalten sind. In seinen Bewegungen steckt zugleich auch der Versuch, Gefühle von Nichtzugehörigkeit und Minderwertigkeit zu überwinden. Der Mensch hat also unbewusst seine Lebensbewegung von Anfang an auf ein Ziel hin ausgerichtet. In diesem Gefüge bekommt jede Fehlentwicklung, jede Krise, jedes Symptom einen Sinn, den es in Psychotherapie und individualpsychologischer Beratung zu erschließen gilt.
Psychische Probleme und psychosomatische Erkrankungen verstehen wir immer als Ausdruck seelischer Not, unbewusster Konflikte und missglückter Selbstheilungsversuche. In den vielfältigen, individuell gestalteten Symptomen erkennen wir Überlebensstrategien, die sich nach innen (als für den Menschen selber) wie auch nach außen (für die Mitmenschen) zerstörerisch auswirken können.
Indem wir versuchen, die Dynamik dieses Prozesses jedes Mal neu zu verstehen und die ihm innewohnenden schöpferische Kraft zu erkennen, können wir unseren Klienten und Patienten in Beratung und Psychotherapie helfen, neue Zusammenhänge in sich selbst zu entdecken und innerlich und äußerlich neue Wege für ihr Leben zu finden. Dieses auf das Individuum ausgerichtete Vorgehen ist von besonderer Bedeutung in einer Zeit, in der der einzelne Mensch in der Menge unterzugehen droht.